2010-04-05

Natürlich gibt es Gerechtigkeit

In Budapest bin ich zum ersten Mal. Das Hotel liegt exklusiv auf dem Burgberg mit Blick über die Donau auf das beeindruckende Parlamentsgebäude. Im eleganten Fahrstuhl freue ich mich auf das Frühstück mit Orangensaft, Rührei und gebratenem Speck. Vielleicht werde ich mir auch etwas Ketchup über das Ei machen. Das mache ich nur in Hotels, nie zu Hause. Im Frühstücksraum hat man eine atemberaubende Aussicht auf die nur wenige Meter entfernte Fischerbastei, die an eine Burg aus einem Disney-Film erinnert. Die Matthias-Kirche glaubt man berühren zu können. An einem Fenster mit diesem Ausblick kann man werbewirksam eine italienische Designer-Ledercouch fotografieren. Aber nicht jetzt. Denn an dem Tisch mit dem besten Ausblick sitzt ein Paar in den Sechzigern. Er ist mit seinem Frühstücksei beschäftigt. Sie hingegen schaut milde lächelnd in den Raum und mustert mich Neuankömmling eindringlich von oben bis unten. Wenn ich dort säße würde ich bestimmt aus dem Fenster schauen, diesen einmaligen Blick geniessen und nicht die Leute anglotzen, denke ich so bei mir. Bei der blonden Dame scheint es allerdings umgekehrt zu sein. Die neuen Gäste, überwältigt von der Aussicht, suchen ebenfalls nach einem freien Platz. Jeder möchte am Fenster sitzen. Aber dort, am schönsten Fensterplatz sitzt die blonde Frau. Keck, wenn nicht sogar eine Spur arrogant schaut sie den Neuen ins Gesicht. Hier, am schönsten Fensterplatz in ganz Budapest, sitze ich! wird sie sich denken. Sie sonnt sich im Neid der Anderen. Ich merke, wie es in mir brodelt und ich beginne, ihr Böses zu wünschen. Ist es nicht Pflicht, aus dem Fenster zu schauen, wenn man einen solchen schönen Platz ergattert hat? Ein bisschen mehr Demut, Madame! Und nun iss endlich dein Alibi-Fitzelchen Räucherlachs, was schon seit einer halben Stunde auf deinem Teller schwitzt und dann schleich dich! Aber die blonde Frau legt noch einen drauf und verschränkt die Arme vor der Brust und schaut, wie im Theater von der Bühne ins Publikum. Mein Groll wächst. Gedanken kommen in mir hoch, sie möge sich, wenn sie dann endlich aufsteht, das Bein brechen oder wenigstens den Fuss verstauchen. Jetzt spricht sie zu ihrem Mann, ohne uns, das Publikum, aus den Augen zu lassen. Ihr Mann trabt wortlos zum Büfett und holt der Protagonistin ein Glas Tomatensaft. Zurück am Tisch reicht er ihr das Glas. Sie greift, den Blick immer noch auf das Publikum gerichtet, zerstreut zu. Und da passiert es. Das Glas rutscht ihr durch die Finger, knallt auf den Teller, ertränkt das Fitzelchen vom längst toten Räucherlachs mit dem blutroten Tomatensaft, der ihr über den hellen Rock läuft. Sie zischelt ihren Mann vorwurfsvoll etwas zu. Entsetzt schaut sie mich an. Diesmal bin ich es, der, den Kopf leicht zur Seite gelegt, milde und vielleicht sogar eine Spur arrogant, lächelt.

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